Die Entdeckung der Langsamkeit

Es ist kaum zu glauben – der Wind ballert schon wieder aus Nordost über’s Land. Ich bin an der Westküste Jütlands, wo sich jeder Baum und jeder Strauch der beständigen Kraft des Westwinds beugt und sich gen Osten neigt, und mir weht es seit Tagen mit wenigen Ausnahmen aus nördlicher Richtung entgegen, gerade so als ob die Vegetation mal wieder in’s Lot gedrückt werden müsste.

Das fette Hochdruckgebiet hängt noch immer nördlich der britischen Inseln fest, beschert allen Touristen in Dänemark sonniges Wetter, den Bauern Dürre und bläst mir seinen scheinbar uberschöpflichen Luftvorrat im Uhrzeigersinn drehend entgegen. Wann geht diesem aufgeblasenen Ding eigentlich mal die Luft aus? Vorläufig nicht! Noch für voraussichtlich mindestens weitere 7 Tage werde ich es mit nördlichen Winden zu tun haben.
Ich will deswegen weiter nach Norden, nach Hanstholm, wo ich Chancen hab, auch bei Nordwind mit meiner Tüte abheben zu können.
Der Weg dahin führt aber leider wieder einmal gegen den Wind. Gute 5 Beaufort Gegenwind erwarten mich auf meiner Etappe von Bovbjerg nach Nordosten. Ich sollte mir besser nicht zu viel vornehmen.

Wie ich als Radfahrer von meinem Pilotenwissen profitier – und umgekehrt

Schon auf den ersten Kilometern spür ich die Wucht des Windes. Ich hab hier aber immer wieder Schutz durch Gebäude oder Bewuchs am Straßenrand. Der turbulente Bereich hinter Hindernissen, die vom Wind angeströmt werden, ist ungefähr 10 mal so lang, wie das Hindernis hoch ist. Das eingeschossige Bauernhaus mit Dach hat vielleicht 7…8 m Höhe. Ich darf also in einem Streifen von 70, 80 m Länge mit etwas Schutz vor der vollen Wucht des Windes rechnen. Und tatsächlich – die Wirkung ist verblüffend stark und ich freu mich über alles was da steht und mir einige etwas leichtere Kurbelumdrehungen schenkt.

So radel ich dem Wind entgegen, suche Hindernisse am Wegesrand und versuche vorherzusagen, wann ich in den turbulenten Bereich im Lee des Hauses, der Sträucher etc einfahre und wie die Wirkung sein wird. Das bringt Abwechslung und schult gleichzeitig meine Sinne dafür, mit was ich rechnen muss, wenn ich mit meinem Gleitschirm mal wieder in der Nähe eines im Wind stehenden Hindernisses landen muss: Erweiterung meiner Pilotenkenntnisse auf dem Fahrrad🚴🪂

In Thyboron geht’s auf die Fähre über den gleichnamigen Kanal. Da ich bis zur nächsten Abfahrt noch etwas Zeit habe schau ich mir den Fischereihafen und die festgemachten Offshore-Installationsschiffe an.

Mit dem Verlassen der Fähre auf der Nordseite des Kanals betritt man den Nationalpark Thy. Links und rechts neben mir eine wunderschöne Flachwasserlandschaft mit Inseln, Schilfgürtel, Kanälen und großen offenen Wasserflächen. Allerdings bin ich hier dem Nordostwind schutzlos ausgeliefert.

Mit über 30 km/h Mittelwind bläst es mir ins Gesicht. Im Schneckentempo kriech ich über die schmale Landzungen zwischen Nordsee und den Fjorden auf der Ostseite

Da ich aber kein hochgestecktes Ziel habe kann ich beschaulich meinen Weg machen.
Der nördliche Teil des Nationalparkes ist die größte Dünenheide Europas. Das will ich mir unbedingt ansehen und mache in Lyngby Endstation für heute.

Einer der zahllosen Seen im Nationalpark Thy.

Die eindrucksvolle Heidelandschaft bricht mit riesigen Dünenkämmen zur Nordsee hin ab. Fürs Auge ein Genuss, aber auch das Fliegerherz schlägt höher, denn tatsächlich ist auch hier im Nationalpark das Fliegen mit Gleitschirmen an der Küste erlaubt.
Für mich geht’s aufgrund unpassender Windbedingungen hier jedoch nicht in die Luft.

Statt dessen verkrümel ich mich in mein Nachtlager im alten Bootshaus der Seenotretter.

Einfach genial, was die Dänen so an Infrastruktur für anspruchslose (rad)wanderende Naturliebhaber zur Verfügung stellen. Von Benny, einem Freiwilligen aus der Nachbarschaft, der in Zusammenarbeit mit den Naturschutzbehörden das Haus betreut, werde ich sehr herzlich empfangen. Gegen eine kleine Gebühr von 30 Kronen darf ich eine Nacht bleiben – kleine Küche, Strom, fließend Wasser und (kalte) Dusche inbegriffen. Sogar die Schubkarotte durfte mit ins Nachtlager.